Vor welchen Herausforderungen steht das Ahrtal zwei Jahre nach der Flutkatastrophe?
Mühsamer Wiederaufbau, Diskussionen über Hochwasser und Katastrophenschutz - Tanja Nietgen, Leiterin des Projektbüros für Rheinland-Pfalz im BMBF-Projekt Klima-Anpassung, Hochwasser, Resilienz (KAHR) informiert über die Aktivitäten von IQIB im Ahrtal.
Die Hochwasser- und Flutkatastrophe im Juli 2021 hat die Infrastruktur in weiten Regionen Nordrhein-Westfalens und in Rheinland-Pfalz zerstört. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt KAHR (Klima-Anpassung, Hochwasser, Resilienz) unterstützt mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und durch die Erarbeitung konkreter praxisorientierter Maßnahmen einen klimaresilienten Wieder- und Neuaufbau.
IQIB leitet das Projektbüro Rheinland-Pfalz und dient als Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Akteuren vor Ort. Die regionale Verankerung unseres Instituts im Ahrtal in der
Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler ermöglicht es uns, die Bedarfe der lokalen Akteure direkt zu erfassen und passgenaue Beteiligungsformate und Experten-Veranstaltungen zu konzipieren. Zudem leisten wir den Transfer von aktuellen Forschungsergebnissen der Verbundpartner in die Praxis.
Tanja Nietgen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IQIB und Leiterin des Projektbüros KAHR in Rheinland-Pfalz, berichtet im Interview über Faktoren, die den Wiederaufbau verzögern, über die Herausforderungen beim überörtlichen Hochwasserschutz und gibt einen Einblick in die Transfer-Aktivitäten von IQIB.
IQIB: Wie weit ist der Wiederaufbau gut zwei Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal fortgeschritten?
Tanja Nietgen: Der Wieder- und Neuaufbau in den von der Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal betroffenen Bereichen gestaltet sich sehr differenziert: Es gibt aktuell – zwei Jahre nach der Katastrophe – noch gravierende Unterschiede beim Wiederaufbau. Einige Orte im Ahrtal, wie zum Beispiel Insul, bezeichnen den Aufbau als sehr weit fortgeschritten. In vielen anderen Gebieten sind die Auswirkungen der Naturkatastrophe allerdings noch umfassend erkennbar. Eine einzelne Erklärung für die verschiedenen Geschwindigkeiten beim Wiederaufbau ist nicht möglich, vielmehr handelt es sich um ein Bündel von Aspekten, die sich positiv oder negativ auf die jeweilige Situation auswirken: zum Beispiel der Grad der Betroffenheit der Kommune, die Bevölkerungsstruktur, die Verfügbarkeit von Gutachtern und Handwerkern, die Vorgehensweise und Geschwindigkeit der Versicherungen im Rahmen der Schadensregulierung. Ganz allgemein kann festgestellt werden: Ein „Eins-zu-Eins“-Wiederaufbau, zum Beispiel eines betroffenen Gebäudes an der ursprünglichen Stelle, stellt sich weitaus unkomplizierter und somit schneller dar als ein Neubau an einer anderen Stelle, für den eine Ersatzfläche benötigt wird und der mit einem Baugenehmigungsverfahren verbunden ist. Auch die Anzahl der beteiligten Akteure wirkt sich auf die Geschwindigkeit beim Wiederaufbau aus: So sind die Fortschritte bei den Besitzern von Privathäusern meist offensichtlicher als die Fortschritte an kommunalen Gebäuden, wie zum Beispiel Schulen oder Kindergärten.
IQIB: Welche sind die aktuell größten Herausforderungen?
Tanja Nietgen: Als große Herausforderung wird im Kreis Ahrweiler der überörtliche Hochwasserschutz für die gesamte Ahr bewertet. Derzeit wird die Diskussion überörtlicher Hochwasserschutzmaßnahmen im Rahmen der „Hochwasserpartnerschaft Ahr“ geführt. Hierbei handelt es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss des Kreises Ahrweiler und seiner Städte und Verbandsgemeinden, die gemeinsam die Hochwasservorsorge voranbringen möchten. Dabei wird nicht ausschließlich die Ahr betrachtet, sondern auch ihre Zu- und Nebenflüsse sowie weitere Gewässer. Eine Formalisierung und verstärkte Verbindlichkeit von Beschlüssen zur Förderung des überörtlichen Hochwasserschutzes, zum Beispiel im Rahmen eines (noch zu gründenden) Zweckverbandes, der auch das Ahreinzugsgebiet in Nordrhein-Westfahlen berücksichtigt, wird in der Region befürwortet.
IQIB: Wie kann der Wiederaufbau so gestaltet werden, dass die neue Infrastruktur klimaresilienter ist?
Tanja Nietgen: Auf allen Ebenen finden sich zahlreiche Strukturen, die im Rahmen des Aufbaus klimaresilienter gestaltet werden. So weisen die sich derzeit in der Planung befindlichen Brücken zum Beispiel einen vergrößerten Abschlussquerschnitt und größere Spannweiten auf, um bei Hochwasser einen geringeren Widerstand zu bilden und Verklausungen zu minimieren. Auf im Wasser stehende Pfeiler wird nach Möglichkeit verzichtet. Für die Förderschulen des Landkreises werden neue Standorte diskutiert, um diese vulnerablen Gruppen zu schützen. Die regionale Verortung der kritischen Infrastrukturen, wie zum Beispiel die Feuerwehren, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und das Technische Hilfswerk (THW) stehen in der öffentlichen Begutachtung. Aber auch die klimaresiliente Wärmeversorgung ganzer Kommunen ist ein Thema: Zahlreiche Ortsgemeinden arbeiten an der Realisierung eines zu großen Teilen auf erneuerbaren Energien beruhenden, hochwassersicheren Nahwärmenetzes. Privathaushalte beschäftigen sich mit der Frage, wie der Aufbau ihres Eigenheims hochwassergesichert erfolgen kann, zum Beispiel durch die Verlegung von Versorgungsanschlüssen in die oberen Etagen. Es gibt im Ahrtal kein allgemeingültiges Konzept für einen klimaresilienten Wiederaufbau, allerdings ist beobachtbar, dass sich auf vielen Ebenen Gedanken gemacht und entsprechende Maßnahmen realisiert werden.
IQIB: Wie verläuft der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis innerhalb des Projekts?
Tanja Nietgen: Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes KAHR (Klima-Anpassung – Hochwasser – Resilienz) werden Akteure aus der Wissenschaft und den von der Flutkatstrophe im Sommer 2021 betroffenen Regionen zusammengebracht, um Ideen und Konzepte zu entwickeln, die Umsetzung von Klimaanpassungsmaßnahmen zu begleiten und somit wissenschaftliche Erkenntnisse in den Aufbauprozess einzubringen. Für den Austausch werden verschiedene Formate genutzt, beispielsweise Fachvorträge, Infoveranstaltungen, Presseaktivitäten, Workshops, Leitfäden. Zudem finden regelmäßige Treffen mit Akteuren aus Politik und Verwaltung statt.
IQIB: Welche Rolle spielt IQIB als Projektbüro für Rheinland-Pfalz?
Tanja Nietgen: Wir sind Ansprechpartner für die regionalen Akteure vor Ort. Anfragen diskutieren wir mit den jeweils zuständigen Verbundpartnern des Projekts KAHR und spielen die Antworten in die Region zurück. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Unterstützung bei der bedarfsgenauen Entwicklung von Ergebnissen und Produkten sowie deren Transfer in die Praxis. Zudem vernetzen wir Akteuren aus Verwaltung, Politik und Wissenschaft. Das im Rahmen des Projekts KAHR von Dr. Heiko Apel vom GeoForschungsZentrum Potsdam entwickelte neue Simulationsmodell für die Ausbreitung von Hochwasser in der Fläche haben wir zum Beispiel bei einem von uns organisierten Workshop mit Vertretern der Kreisverwaltung Ahrweiler, dem rheinland-pfälzischen Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie und Mobilität (MKUEM), der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) sowie mit Professor Hannes Taubenböck, Leiter der Abteilung „Georisiken und zivile Sicherheit“ des Deutschen Fernerkundungsdatenzentrums (DFD) am DLR Earth Observation Center (EOC) und Dr. Anton Galich vom DLR-Institut für Verkehrsforschung diskutiert. Wir möchten die Kompetenzen der Beteiligten zu den Themen Katastrophenschutz, Erdbeobachtung und Verkehrssimulation bündeln und daraus eine praxisorientierte regionale Initiative zur Stärkung der regionalen Resilienz und Vorausschau bündeln. Da IQIB ist eine Tochter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) ist, besteht eine enge Anbindung an die Expertise der DLR-Forschungsinstitute.
IQIB: Wie nutzt IQIB die enge Anbindung an das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt?
Tanja Nietgen: Wir integrieren im Rahmen des Projekts „ActForAhrtal“ die Expertise des DLR in die Gestaltung einer „Modellregion Ahrtal“. IQIB hat sich in diesem Zusammenhang zum Beispiel konzeptionell an den Planungen für die Gestaltung eines International Crisis Center Ahr (ICCA) als Ort der internationalen Forschung und Lehre zu den Themen Klima, Katastrophen und Krisenwissenschaft sowie des Gedenkens an die Flutkatastrophe beteiligt. Zudem unterstützen wir regionale Akteure in den Bereichen „Nahwärme“ und „Nachhaltige Energieversorgung“. Im Koordinierungskreis „Nachhaltiges Tourismuskonzept Ahrtal 2025“ haben wir eine beratende Mitgliedschaft. Schließlich wurde das DLR-Institut für Verkehrsforschung zu Fragen des „On-Demand ÖPNV Netzwerk“ mit relevanten Akteuren im Ahrtal vernetzt. Die im Rahmen dieses Projekt gesammelten Erfahrungen übertragen wir auf weitere Regionen, z.B. das Rheinische Revier.
Das Forschungsprojekt KAHR läuft von November 2021 bis Oktober 2024. Ein weiteres Projektbüro – für die von der Flut betroffenen Gebiete in Nordrhein-Westfahlen – wird am Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der RWTH Aachen (IWW) geführt.